36. Kapitel
Der Wind strich heulend durch die hohen Tannen, fegte Blätter und Zweige über die Füße der versammelten Vampire. Es war tiefe Nacht; lediglich ein paar kleinere Lagerfeuer waren am Rande des Platzes entzündet worden - nicht dass die Dunkelheit ein Hindernis für die scharfen Augen der Vampire gewesen wäre. Schweigend standen sie da, in schwarze Umhänge gehüllt, darunter, wie es ihrem Brauch entsprach, unbekleidet. Bewegung kam in die Menge, als in diesem Augenblick ihr Clanführer in ihre Mitte trat. Die Versammelten wichen respektvoll zurück und bildeten einen weiten Kreis um ihr Oberhaupt. Lord Patrick Bruces Ausstrahlung war fast greifbar, er wirkte stark, streng, entschlossen und unerbittlich.
»Ihr fragt euch, warum ich euch hierhergerufen habe«, hob er an, und sein Blick schweifte dabei über viele Gesichter. »Ihr sollt es sogleich erfahren.«
Ein Blick nach links war das Signal für Violet und Angelica vorzutreten.
»Die Auserwählten, die Auserwählten, die Auserwählten«, rauschte es murmelnd durch die Menge. Hunderte von Augenpaaren richteten sich voll freudiger Erregung auf die beiden Frauen, Hunderte von Köpfen neigten sich ehrerbietig. Diese Frauen, die nun Patrick flankierten, repräsentierten die Zukunft ihres Volks. Sie waren die Verheißung auf ein Leben ohne die Gier nach Blut.
»Vor einigen Wochen«, begann Patrick mit lauter Stimme, »wurde ein Anschlag auf die Auserwählten verübt Verräter aus unseren eigenen Reihen - Vampire wie - hatten es sich zur Aufgabe gemacht, uns unserer Retter zu berauben und so den Untergang unserer Rasse herbeizuführen.«
Partrick hielt inne, da die Unruhe unter den Versammelten zu groß geworden war, um fortzufahren. Er duldete die Entsetzens- und Unmutsäußerungen, ja begrüßte sie sogar Sollten alle wissen, dass sie als Clan, als Volk einig waren - trotz der Ziele einiger vereinzelter Abtrünniger. Er wollte und konnte nicht zulassen, dass die Wahren Vampire die Einigkeit unter seinen Leuten zerstörten.
Schließlich hob er den Arm, und die Leute verstummten. Erst als nurmehr das Knacken vereinzelter Äste unter bloßen Füßen zu hören war, fuhr er fort.
»Die Verräter wurden mithilfe der Anführer der Süd- und Ostclans gefasst. Viele versuchten feige zu fliehen, und der Gerechtigkeit wurde an Ort und Stelle Genüge getan. Nur drei sind noch übrig, an denen hier und jetzt das Urteil vollzogen wird.«
Wie auf ein Stichwort teilte sich die Menge und ließ Alexander und Ismail mit drei gefangenen Vampiren in ihre Mitte treten. Patrick spürte, wie seine Frau sich unwillkürlich anspannte, verbot es sich jedoch, ihr Trost zu spenden. Violet war eine starke Frau, und er musste ein starker Führer für seine Leute sein. Sein Clan sollte wissen, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Dass er die Einhaltung ihrer uralten Gesetze durchsetzen würde - und dadurch ihrer aller Überleben schützte.
»Diese drei Vampire waren an der Verschwörung zur Ermordung der Auserwählten beteiligt. Jeder von ihnen wurde des Trinkens von Menschenblut überführt und für schuldig befunden.«
Die Verräter wurden geknebelt vor Patrick hingeführt.
»Seit Jahrhunderten gehorchen wir unseren Gesetzen und nur dadurch ist es uns gelungen, uns vor den Augen der weitaus zahlreicheren Menschheit zu verbergen. Diese Vampire, die hier vor euch stehen, sind nicht nur Gesetzesbrecher, sie haben durch ihr Verhalten unser aller Überleben gefährdet.«
Nun kam es in der Menge zu vereinzelten Wutausbrüchen. Patrick sah, wie ein paar spontan vortraten, die Fäuste schüttelten und zornige Blicke auf die Angeklagten warfen.
Patrick holte tief Luft. Die Zeit war gekommen, die Urteile zu vollstrecken. Seine Finger kribbelten. Er wusste, was jetzt kommen musste.
Da trat James vor, als habe er Patricks Entscheidung gefühlt. Auf den Armen trug er ein unförmiges, in einen dunklen Stoff gehülltes Paket. Ein erregtes Murmeln lief durch die Menge, deren Blicke sich zuerst auf den Herzog, der lange Jahre ihr Oberhaupt gewesen war, und dann auf das Bündel in seinen Armen richtete.
Patrick schlug einen Zipfel des Stoffs auf und hielt drei schwarze Bücher hoch.
»Aufgrund des schändlichen Verrats der drei Verbrecher werden diese Bücher nicht an den Geschichtsschreiber übergeben werden. Und auch die Lebensgeschichte dieser drei werden nicht wie sonst üblich verlesen werde Man soll die Tagebücher verbrennen, auf dass keine Erinnerung mehr an diese drei zurückbleibe.«
Die Menge schnappte erschrocken nach Luft, der Zornpegel sank spürbar. Für viele war dies ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Das schwarze Tagebuch eines Vampirs war fast so etwas wie ein Heiligtum. In ihm verzeichnete er sein Leben und seine Taten - all das, was für ihn von Bedeutung gewesen war. Die Tradition schrieb vor, dass bei der Beerdigung eines Vampirs aus diesem Tagebuch vorgelesen wurde, damit jene, die den Betreffenden unter einem anderen Namen und in einer anderen Zeit gekannt hatten, sein Dahinscheiden betrauern konnten. Danach wurde das Tagebuch dem Geschichtsschreiber übergeben, der es an einem nur ihm und den Führern bekannten Ort aufbewahrte. Auf diese Weise ging die Erinnerung an einen Vampir niemals verloren.
Aber diese Verräter verdienten eine solche Ehre nicht. Sie hatten sich gegen ihre Gesetze, gegen ihre Gebräuche gewandt und waren somit vogelfrei.
Patrick gab die Tagebücher an James zurück. Abermals griff er in das Bündel, und diesmal zog er ein langes Schwert hervor, dessen Klinge unheilvoll im Mondlicht glitzerte.
Nun, da Mikhail mit jedem der zehn Wachtposten, die der Herzog ihnen zur Verfügung gestellt hatte, ein kurzes Wort gewechselt hatte, betrat er das Foyer von Alexanders Anwesen. Er wusste selbst, dass er versucht hatte, Zeit zu schinden, einer gewissen Begegnung aus dem Weg zu gehen, aber jetzt konnte er es nicht länger vermeiden: Er musste Nell gegenübertreten, auch wenn es das Letzte war was er im Moment wollte. Er fürchtete sich vor der Antwort auf seine letzte Frage, fürchtete, sie sofort in ihren Augen lesen zu können, wenn er sie traf.
Die Antwort, vor der er sich fürchtete, war »Nein«.
Nach mehreren schlaflosen Nächten hatte Mikhail beschlossen, es noch einmal zu versuchen, nicht aufzugeben, George hin oder her. Er musste einfach versuchen, sie davon zu überzeugen, dass er der richtige Mann für sie war - was um so vieles leichter wäre, wenn sie schwanger war.
Zum Teufel noch mal, er hatte keine Ahnung, wie man um eine Frau warb! Er hatte es einfach noch nie nötig gehabt. Und jetzt, wo es lebenswichtig für ihn gewesen wäre, wusste er nicht, wie er vorgehen sollte.
Unbeholfene Klavierakkorde drangen an sein Ohr. Mikhail gab sich einen Ruck und holte tief Luft. Die Tür zum Musikzimmer war nur angelehnt. Mikhail schaute hinein. Nell saß mit Mitja auf dem Schoß am Flügel. Einen Arm hatte sie um den kleinen Kerl geschlungen, mit der anderen Hand führte sie seine Finger über die Tasten. Mikhail schnürte es bei diesem Anblick die Kehle zu, und sein Herz zog sich zusammen.
Dort, direkt vor ihm, war das Leben, das er sich ersehnte. Aber er hatte Angst, dass es ihm irgendwie entschlüpfen könnte.
»Hallo, Nell.«
Nell erstarrte, drehte sich aber nicht um, als er nun auf sie zuschritt. Mikhail nahm Mitja und setzte ihn zu Kat ja auf den Boden. Dann setzte er sich neben Nell auf die schwarzlackierte Klavierbank. Einen Moment lang wusste er nicht, was er sagen sollte, suchte nach den richtigen Worten.
»Ich dachte, du wolltest nicht mehr mit mir reden« sagte Nell leise, den Blick auf ihren Schoß gerichtet. Mikhail seufzte.
»Ich war ein Narr. Ich hätte das alles nicht sagen sollen, es tut mir leid, Nell.«
Er hätte sie gerne in die Arme genommen, an sich gezogen, aber sie wirkte so steif, dass er fürchtete, sie könnte ihn zurückweisen.
»Du musst nicht nett sein, Mikhail«, sagte sie nach einer kleinen Pause und ließ die Finger nervös über die Tasten gleiten. »Ich wollte dir schon vor ein paar Tagen eine Notiz schicken, aber ...« Ihre Hand ballte sich zur Faust. »Ich bin nicht schwanger.«
Mikhail stockte der Atem. Das hatte er befürchtet. Auf einmal saß ihm ein Kloß im Hals, und er konnte nichts sagen.
Nell ließ ihre Hand sinken und hob den Kopf, schaute über den Flügel hinweg in die dunkle Nacht hinaus.
»Ich habe mit deiner Schwester und mit Violet geredet. Morgen werde ich abreisen.«
Sein Kopf fuhr herum, suchte ihren Blick, doch sie wich ihm aus. »Wohin?«
Ihr Schulterzucken war kaum wahrnehmbar. »Zurück nach New Hampton. In mein Haus.«
Zurück zu George, dachte Mikhail mit schwerem Herzen.
Er war ein Idiot. Es wurde Zeit, die Gegebenheiten hinzunehmen. Er sollte ihr alles Gute wünschen. Das war das Mindeste, was er für sie tun konnte.
»Ich hoffe, du und George, ihr werdet glücklich, Nell.«
Nun richteten sich ihre Augen doch auf ihn. »Was meinst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass ihr euch liebt. Ich hätte mich nie zwischen euch drängen dürfen.«
»Du weißt, dass ich - George liebe?«
Warum gab sie es nicht zu? Es gab keinen Grund mehr für Versteckspiele.
»Du kannst es ruhig zugeben, Nell.«
Ihre Augen wurden schmal. Voller Misstrauen sagte sie: »Das redest du dir also ein? Dass ich George liebe? Um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil du mir deine Beziehung zu Lady Denver verschwiegen hast?« Nell kam jetzt richtig in Fahrt. Sie zeigte wütend mit dem Finger auf ihn. »Weil du mich einen Monat lang hast glauben lassen, dass dir was an mir liegt, während du in Wahrheit mit einer anderen verlobt bist!«
» Was redest du da, Frau?«, stieß Mikhail mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich war nie verlobt und werde mich auch nie mit Caroline verloben! Wo hast du bloß diesen Unsinn her?«
»Ehrlich nicht?«, stotterte sie, nun vollkommen verwirrt. Ihr Zorn war verraucht, aber der von Mikhail war nun entfacht. Warum erzählte sie solche Lügen?
»Nein, natürlich nicht! Aber du liebst George, du brauchst es gar nicht zu bestreiten! Ich habe euch gehört, als er am Morgen nach ..., nachdem wir ...«
Jetzt erst sah er, dass in Nells Augen Tränen glitzerten O nein, bloß das nicht! Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen. Sofort nahm er sie fürsorglich in die Arme streichelte ihr übers Haar.
»Was ist denn, Nell? Was habe ich denn gesagt?«
»Ich hab gedacht ... Ich dachte, du liebst sie«, sagte sie schniefend an seiner Brust.
»Nein, Nell«, flüsterte Mikhail. Er empfand auf einmal eine tiefe Traurigkeit und schloss unwillkürlich die Augen. Könnte es sein, dass sie sich etwas daraus machte, wen er liebte und wen nicht? Aber vielleicht spielte ihm sein Verstand ja einen Streich?
Nell löste sich von ihm und schaute zu ihm auf.
»Ich weiß nicht, was du glaubst, gehört zu haben, Mikhail. Aber ich liebe George nicht mehr. Schon seit längerem.«
Die Klinge sauste zischend durch die Luft, Vögel flatterten erschreckt aus Bäumen auf. Patrick zuckte nicht mit der Wimper, als der erste Vampir kopflos vor ihm in den Staub sank. Er tat zwei Schritte nach rechts und holte erneut aus. Ein sauberer Hieb, ohne Zögern, ohne auf das scharfe Atemholen der hinter ihm stehenden Frauen zu achten. Er war Clanführer. Und dies war Gerechtigkeit. Der zweite Kopf rollte übers Laub.
Blieb nur noch Delphine. Ihre Augen waren im Gegensatz zu denen der anderen direkt auf ihn gerichtet. Der Hass, der darin loderte, grenzte an Wahnsinn. Patrick richtete die Klinge an ihrem Hals aus. Er hob beide Arme. Sie holte tief Luft. Und dann hörte sie auf zu atmen.
»Der Gerechtigkeit ist Genüge getan!« Patricks Stimme schallte über die Waldlichtung. Seine Leute antworteten mit einer Stimme: »Lang leben die Auserwählten!«
Er liebte Lady Denver gar nicht! Nell konnte es kaum fassen. Sie hätte lachen können, aber da sie gerade geweint hatte, wollte sie Mikhail lieber nicht noch mehr durcheinander bringen. Er glaubte sonst noch, dass sie verrückt war.
Bei diesem finsteren Gedanken löste sich ihr Glücksgefühl in Rauch auf.
Was spielte es für eine Rolle, dass er nicht in eine andere verliebt war? Sie war trotzdem nicht die Richtige für ihn. Kein Mann wollte eine Verrückte.
Ich muss nach den Kindern sehen«, entschuldigte sie sich, stand auf und setzte sich zu den Kindern auf den Boden, die beide vollauf zufrieden mit ihren Spielsachen waren und momentan gar keine Beachtung brauchten.
»Nell, du willst doch nicht kneifen?«, erkundigte sich Mikhail, der auf der Klavierbank sitzen geblieben war.
»Was meinst du damit? Nein, natürlich nicht.« Sie war so eine Lügnerin! Die nun eintretende Stille wurde bald so angespannt, dass Nell sich kaum mehr ruhig halten konnte. »Du hast Angst!«, sagte Mikhail plötzlich überrascht. »Ich hab keine Angst!« »Doch! Du hast Angst vor mir!« »Ich hab keine Angst vor dir!«
»Wovor dann? Denn dass du vor etwas Angst hast, ist offensichtlich.« Nell sprang auf und begann nervös hin und her zu gehen. »Du weißt doch, was ich bin. Ich hab's dir doch er klärt!«
Mikhail sprang ebenfalls auf und hielt sie am Arm fest zwang sie, ihn anzusehen. »Wenn du damit sagen willst dass du ›verdammt‹ bist, dann hör auf, das ist doch Unsinn!«
»Ist es nicht!« Nell versuchte sich von ihm loszureißen »Verstehst du denn nicht? Meine Mutter war wie ich, und sie wurde wahnsinnig!«
»Nell, deine Mutter ist an einem Fieber gestorben«, sagte Mikhail beschwichtigend.
Er glaubte ihr nicht, sie hörte es an seinem Tonfall. Aber es stimmte!
»Du verstehst das nicht! Die Dinge, die sie zu mir gesagt hat! Sie war wahnsinnig, Mikhail. Sie sagte, sie sieht Dinge, unmögliche, furchtbare, unglaubliche Dinge!«
Nell wusste selbst, dass sie faselte. Sie musste sich zusammenreißen. Sie holte ein paarmal tief Luft, versuchte sich zu fassen. Doch noch während sich ihr Atemrhythmus verlangsamte, schien auch die Welt sich zu verlangsamen, bis sie stillstand. Und dann begann sie zu rasen, schneller und schneller - bis sie dem Unmöglichen, dem Unglaublichen ins Antlitz blickte!